Die Frage
Ein Auto fährt mit \(v\) Metern pro Sekunde geradeaus, und der Fahrer träumt, anstatt auf die Fahrbahn zu achten. Plötzlich fällt ihm auf, dass er frontal auf eine Mauer zu fährt. Die Straße gabelt sich vor der Mauer rechtwinklig nach links und rechts. Um der Mauer zu entgehen, kann der Fahrer entweder bremsen, oder er kann versuchen, eine 90°-Grad-Kurve zu fahren. Welche Wahl ist besser?
Die Vollbremsung
Die Masseträgheit bewegt das Auto \(v\) Meter pro Sekunde nach vorne — auf die Mauer zu. Eine Vollbremsung beschleunigt das Fahrzeug entgegen der Fahrtrichtung mit \(a\) Metern pro Quadratsekunde. Zu einem Zeitpunkt \(t\) ist die ursprüngliche Geschwindigkeit deswegen um \(at\) Meter pro Sekunde reduziert: \[v(t)=v-at.\]
Die Vollbremsung ist in dem Moment \(t_0\) abgeschlossen, in dem \(v(t_0)=0\) gilt, nämlich \(t_0=\frac{v}{a}.\) So lange dauert es, Stillstand zu erreichen.
Geschwindigkeit bedeutet Veränderung des Orts über Zeit, daher bestimmt \[r(t)\;=\;\int{}v(t)\,\text{d}t\;=\;vt-\frac{1}{2}at^2\] welche Distanz der Wagen zu einem Zeitpunkt \(t\) zurückgelegt hat. Von besonderem Interesse ist die Entfernung, nach der das Auto zum Stillstand kommt — der Bremsweg:
\[r(t_0)=\frac{v^2}{2a}.\]
Bei einer Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometern liegen tatsächlich gemessenen Bremswege verschiedener Auto-Typen zwischen 33 und 53 Metern. Die besten Werte erzielen erwartungsgemäß Sportwagen. Dies entspricht einer mittleren Brems-Beschleunigung zwischen 7,28 und 11,69 Metern pro Quadratsekunde. Nähme man diese Extremwerte zum Maßstab, dann ergäben sich beispielsweise folgende Bremswege für die jeweilige Geschwindigkeit:
km/h 20 80 <td>120</td> <td>200</td> </tr>
m <td>1,32</td> <td>21,12</td> <td>47,52</td> <td>123,0</td> </tr>
m <td>2,12</td> <td>33,92</td> <td>76,32</td> <td>212,0</td> </tr>
Wie man sieht, ist ein Sportwagen bei hohen Geschwindigkeiten also durchaus eine feine Sache.
Die Kurve
In einer Kurvenfahrt wird die Bewegung der Masseträgheit umgelenkt durch eine Beschleunigung, die im rechten Winkel zur Bewegung wirkt. Die Geschwindigkeit des Fahrzeugs ändert sich nicht –— \(v\) ist konstant —–, aber die Richtung der Bewegung ändert sich. Im Idealfall beschreibt das Fahrzeug einen Viertelkreis mit Radius \(R\), bis sich die Fahrtrichtung durch konstantes Umlenken schließlich um 90° gedreht hat. Diese Umlenkung wird Querbeschleunigung genannt:
\[a = \frac{v^2}{R}.\]
Laut Wikipedia können übliche PKW Querbeschleunigungen zwischen 7 und 10 Meter pro Quadratsekunde vertragen, bevor sie die Zentrifugalkraft aus der Kurve schmeißt. Nimmt man a=9,81 als Beispiel, so kann das gegebene Fahrzeug bestenfalls Kurven mit jeweils folgenden Radien fahren:
km/h 20 80 <td>120</td> <td>200</td> </tr>
m <td>3,15</td> <td>50,34</td> <td>113,26</td> <td>314,62</td> </tr>
Diese Werte bedeuten, dass das jeweilige Fahrzeug trotz perfekter Kurvenfahrt immer noch eine Distanz \(R\) nach vorne bewegt wird — auf die Mauer zu.
Der Vergleich
Um beide Strategien zu bewerten, vergleichen wir, wieviel Beschleunigung jeweils aufgewendet werden muss, damit beide dasselbe Ergebnis erzielen. Dies ist der Fall, wenn Bremsweg und Wendekreis-Radius gleich groß sind, \(r(t_0)=R\), also:
\[\frac{v^2}{2a_\text{B}} \,=\, \frac{v^2}{a_\text{Q}}.\]
Offenbar sind beide Strategien genau dann gleich gut, wenn das gegebene Fahrzeuge doppelt so stark quer beschleunigen kann, wie es bremsen kann. Dass ein realer PKW diese Eigenschaft haben könnte, erscheint jedoch wenig plausibel. Es ist also aller Wahrscheinlichkeit nach besser, eine Vollbremsung zu probieren.